Die Anzahl der pro Person eingenommenen chemisch-definierten Arzneimittel hat in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich zugenommen. Deren Wechselwirkungen untereinander sind oft nicht bekannt, was das Risiko für unerkannte Schäden durch Medikamentenwirkung erhöht. Wenn Wechselwirkungen bekannt werden, können Vorsichtsmaßnahmen getroffen werden und die Risiken vermindert werden.
Da Wechselwirkungen nicht nur zwischen chemisch-definierten Medikamenten möglich sind, sondern auch zwischen chemisch definierten und chinesischen Arzneien, ist eine Auseinandersetzung mit dem Thema „Interaktion“ auch für unseren Bereich wichtig. Ziel dabei ist, dass wir als TCM Arzneimittel-VerschreiberInnen unsere Entscheidungen zur Wahl und zur Dosierung von TCM-Arzneien auf einer möglichst gut informierten Basis treffen können, die uns dabei hilft Interaktionsrisiken weder über- noch unter- zu interpretieren. Wir fassen hier den aktuellen Erkenntnisstand zusammen und zeigen auf, welche der Beobachtungen uns bei unseren Entscheidungen eine Hilfe sein können und welche nicht.
Mit der gleichzeitigen Einnahme chemisch-definierter und chinesischer Arzneien sind Risiken auf uns zugekommen, die in vormodernen Zeiten unbekannt waren und für die aus der traditionellen Chinesischen Medizin keine Erfahrungen vorliegen. Forschungsergebnisse zu möglichen Interaktionen gibt es relativ wenige, und diese können die beträchtliche Anzahl potenzieller Kombinationen bei Weitem nicht erfassen. Bei den vorhandenen Ergebnissen handelt es sich meist um Untersuchungen des Einflusses einer einzelnen chinesischen Arzneidroge auf ein chemisch-definiertes Arzneimittel. In einer Rezeptur mit mehreren Arzneidrogen kann die Wirkung jedoch anders ausfallen. Somit sind die Untersuchungen mit einer Einzeldroge für die Beurteilung einer Rezepturmischung wenig geeignet und das Ergebnis sagt dann mitunter nicht viel aus. So gibt es eine ganze Reihe von Fallberichten und Untersuchungen, die mehrheitlich anzeigen, dass die Wirkung von Warfarin (ein Antikoagulans) durch Salviae miltiorrhizae Radix (Danshen) gesteigert wird und Blutungen auftreten können. In der Kombination Danshen-Gegen-Extrakt kam es jedoch zu einer verringerten Bioverfügbarkeit und somit zu einem Wirkungsverlust von Warfarin, was zu einer gesteigerten Thromboseneigung bei antikoagulierten Personen führen könnte (1, 2).
Noch weniger sagen Untersuchungen isolierter Inhaltsstoffen chinesischer Arzneidrogen für die Wirkung in der therapeutischen Situation aus. So erhöhte das in Scutellariae Radix (Huangqin) enthaltene Baicalin bei der Ratte die Maximalkonzentration (Cmax) von Ciclosporin um 408% und die AUC (Konzentrations-Zeit-Fläche) um 685%, das Huangqin-Dekokt hingegen senkte die Cmax um, je nach Dosis, 63 bzw. 80% und die AUC um 55 bzw. 82% (3).
Einige Literaturartikel berichten über die Auswirkungen pflanzlicher Produkte auf die verschiedenen Cytochrom P450-Enzyme (CYP-Enzyme), die beim Abbau oder auch bei der Aktivierung von Arzneimitteln eine wichtige Rolle spielen. Diese Ergebnisse sind jedoch ebenfalls wenig aussagekräftig, weil es sich um Reagenzglasversuche handelt, die wesentliche Vorgänge im lebenden Organismus, wie Resorption, Kompartimentverteilung in die einzelnen Organe und Zelltransporte ausblendet. So ist beispielsweise von Quercetin, einem häufigen Inhaltsstoff auch chinesischer Arzneidrogen, bekannt, dass es in vitro das Enzym CYP3A4, das auch Ciclosporin abbaut, hemmt. Was theoretisch zu einer erhöhten Konzentration von Ciclosporin führen müsste. Im Tierversuch an Ratten und Schweinen reduzierte es jedoch die AUC von Ciclosporin um 43 bzw. 42 % (4). Berücksichtigt man die zusätzliche Unsicherheit bezüglich der Wirkung von Quercetin innerhalb einer Rezepturmischung, dann sind in vitro-Ergebnisse bzgl. CYP-Hemmung oder -Induktion in der Chinesischen Medizin kaum geeignet, eine Interaktion vorherzusagen.
Nur im Fall einer Rezeptur in nicht abgewandelter Form, für die entsprechende Daten – möglichst vom Menschen – vorliegen, hätte man eine einigermaßen sichere Beurteilungsgrundlage. Dies ist aber nur sehr selten der Fall.
Aus diesen Gründen müssen wir uns der Frage, wie man das Risiko für klinisch relevante Interaktionen möglichst klein hält, anders nähern.
In vielen Fällen ist die therapeutische Breite chemisch definierter Arzneimittel relativ groß. Allein die interindividuellen Unterschiede, wie ein Mittel resorbiert und verstoffwechselt wird, sind recht groß und dennoch gilt zunächst einmal eine Standarddosis für alle. Es gibt jedoch einige Gruppen von Arzneimitteln, die eine enge therapeutische Breite haben, weil sie einen engen Konzentrationsbereich aufweisen, in dem sie wirksam und noch ausreichend sicher sind. Bei Über- oder Unterschreitung des gewünschten Bereichs kommt es schnell zu Wirkungsverlust bzw. – mitunter ernsten – Nebenwirkungen. Bei diesen Mitteln ist große Vorsicht geboten. Eine Wirkungsabschwächung von Immunsuppressiva kann z.B. zu Abstoßungsreaktionen von transplantierten Organen führen, wie das von Johanniskraut bekannt wurde. Eine Spiegelerhöhung von Immunsuppressiva kann hingegen schwere Infektionen begünstigen, die unter der gesteigerten Immunsuppression tödlich enden können.
Arzneimittelgruppen mit enger therapeutischer Breite sind vor Allem
- Immunsuppressiva (insbesondere Ciclosporin und Tacrolimus)
- Antiepileptika
- Zytostatika
- Anti-HIV-Mittel
- Anti-Parkinson-Mittel
- Antikoagulanzien
Die Aufzählung ist nicht vollständig. Bei diesen Mitteln ist die Indikation für eine Chinesische Arzneitherapie generell streng zu stellen, und die Vorteile und Risiken sind gegeneinander abzuwägen.
Bei manchen Mitteln lässt sich – mit einigem Aufwand - der Plasmaspiegel bestimmen, so dass man die Dosis ggfs. nachjustieren kann. Bei Vitamin-K-Antagonisten ist die Bestimmung der Wirkung mittels INR (International Normalized Ratio) Standard und daher ein kontrollierbares Problem, sofern man an die Interaktionsmöglichkeit denkt.
Ist man im Zweifel, ob ein Mittel eine geringe therapeutische Breite bzw. ein höheres Interaktionspotenzial aufweist, kann ein Blick in die Gebrauchsinformation oder Fachinformation helfen. Sind hier unter „Wechselwirkungen“ viele Mittel aufgeführt und evt. mit Warnhinweisen versehen, kann man von einem höheren Interaktionsrisiko ausgehen.
Als allgemeine therapeutische Vorsichtsmaßnahmen werden empfohlen:
- Patientenaufklärung
- Verschreibungspraxis: Dosierungen reflektieren, eventuell Supervision einholen, genaue Dokumentation aller Substanzen, die vom Patienten eingenommen werden
- relativ engmaschige klinische Verlaufskontrolle
- Laborkontrollen, zum Beispiel Wirkstoffspiegel
- Kommunikation mit Mitbehandlern anstreben
Bei Fragen bezüglich Interaktionspotentialen mit westlichen Arzneimitteln können sich Fachpersonen gerne an das CTCA wenden.
Quellen
1. Zhou L, Wang S, Zhang Z, et al. Pharmacokinetic and pharmacodynamic interaction of Danshen-Gegen extract with warfarin and aspirin. J Ethnopharmacol. 2012;143(2):648-655.
2. Zhang YF, Yang MB, Ho NJ, et al. Is it safe to take Radix Salvia Miltiorrhiza - Radix Pueraria Lobate product with warfarin and aspirin? A pilot study in healthy human subjects. J Ethnopharmacol. 2020;262:113151.
3. Lai MY, Hsiu SL, Hou YC, Tsai SY, Chao PD. Significant decrease of cyclosporine bioavailability in rats caused by a decoction of the roots of Scutellaria baicalensis. Planta Med. 2004;70(2):132-137.
4. Hsiu SL, Hou YC, Wang YH, et al. Quercetin significantly decreased cyclosporin oral bioavailability in pigs and rats. Life Sci. 2002;72(3):227-235.
Kommentar aus Sicht der Chinesischen Medizin zur Mitteilung des BfArM
„Ärzte und Patienten sollten sich der Möglichkeit einer Wechselwirkung von Vitamin-K-Antagonisten mit der Goji-Beere bewusst sein. Entsprechende Fälle könnten sich durch die zunehmende Verwendung dieser Beeren häufen. Dabei sollte insbesondere auf die zunehmende Verbreitung von Zubereitungen aus Goji-Beeren, wie zum Beispiel Tees, Marmeladen etc., in Deutschland geachtet werden. Patienten, die Vitamin-K-Antagonisten einnehmen, sollten Zubereitungen, die Goji-Beeren enthalten, vermeiden...“1
Diese Meldung wurde vom BfArM in seinem Bulletin vom 27.03.2013 herausgegeben und von verschiedenen Medien aufgegriffen. Gojibeeren (botanisch Lycium barbarum L.) werden in verschiedener Form zunehmend auch bei uns als Lebensmittel verwendet. In der Chinesischen Medizin ist Lycii Fructus (gou qi zi) ein wichtiges Mittel zur Tonisierung des Leber- und Nieren-yin mit einer besonderen Affinität zum Auge. Daneben wird auch die Wurzelrinde, Lycii Cortex (di gu pi) als Blut-, Nieren- und Lungen-Hitze kühlendes Mittel eingesetzt.
Vitamin-K-Antagonisten sind oral eingenommene Arzneimittel zur Gerinnungshemmung, so genannte Blut verdünnende Substanzen, wie z.B. Marcumar oder das im amerikanischen Raum übliche Warfarin. Zur Wirkungskontrolle von Vitamin-K-Antagonisten wird heutzutage die INR (Internationale Normalisierte Ratio) als Messwert herangezogen. Die INR liegt bei Gesunden bei einem Wert um 1 und steigt bei Einnahme von Antikoagulanzien an. Je nach Indikation sollte die INR zwischen 2 und 3,5 liegen. Bei sehr hoher INR, z.B. INR >4, besteht akute Blutungsgefahr.
Der Warnhinweis des BfArM ist grundsätzlich gerechtfertigt. Es sind 3 Fallberichte über Wechselwirkungen von Gojibeeren mit Vitamin-K-Antagonisten in der Literatur veröffentlicht, ein weiterer Fall stammt aus der Datenbank des BfArM. In dem schwereren dieser Fälle2 kam es zu verschiedenen Blutungen, die Prothrombinzeit war nicht mehr messbar erhöht. Allerdings lässt sich hier der Zusammenhang mit der Einnahme von Gojibeerensaft nicht eindeutig bestimmen. Bei der betreffenden Patientin, einer 71jährigen US-Amerikanerin, wurde bei Entlassung aus dem Krankenhaus nach einer Knie-Operation die Dosis des Vitamin K-Antagonisten Warfarin verdoppelt, ob- wohl die INR fast im therapeutischen Bereich lag. Sie begab sich dann nicht, wie angewiesen, zur Gerinnungskontrolle zum Hausarzt, sondern nahm die erhöhte Dosis für 8 Wochen ein, bis es zu den Blutungen kam. An diesem Tag und an den 3 vorangehenden Tagen hatte sie zweimal täglich je 30 ml Gojibeerensaft getrunken. In diesem Fall könnten also die Blutungen allein schon auf die erhöhte und unkontrollierte Einnahme von Warfarin zurückgeführt werden.
Im erstveröffentlichten Fall3 war eine US-Amerikanerin stabil auf Warfarin eingestellt. Unerwartet kam es zu einer INR-Erhöhung von zuvor 2,5 auf 4,1. Sie hatte die letzten 4 Tage jeweils 3-4 Tassen eines „konzentrierten Tees“ aus Lycii Fructus getrunken. In einem weiteren Fall4 war eine 80jährige Chinesin aus Hongkong auf Warfarin eingestellt, die INR lag zwischen 2.05 und 3.56. Nachdem sie für 2 Tage ein Dekokt aus Lycii Fructus eingenommen hatte (entsprechend 30 bzw. 20 g Droge), lag die INR bei 4,97. Danach war der INR-Wert unter leicht abgesenkter Warfarindosis wieder stabil. Nach einer späteren weiteren Einnahme des Dekokts (entsprechend 40g Droge) für 1 Tag lag am Folgetag die INR bei 3,86. Weitere Kontrollen nach Auslassen des Dekokts zeigten stabile INR-Werte.
Der gemeldete BfArM-Fall1 ist nur schlecht dokumentiert. Es kam bei einem 77jährigen deutschen Patienten, der seit vielen Jahren stabil auf Marcumar eingestellt war, nach dem Genuss von 30-50 Gojibeeren täglich über 2-3 Monate zu großflächigen Hautblutungen und Hämatomen. Verlaufsparameter fehlen, so dass auch dieser Fall nicht sicher zu bewerten ist.
Fazit:
Die gewisse Häufung der Fälle macht einen Zusammenhang zwischen Vitamin-K-Antagonisten und Gojibeeren wahrscheinlich. Die beobachtete Gerinnungshemmung kam jeweils unter hohen Dosen Lycii Frucuts als Dekokt, „Tee“, Saft bzw. in Form der Früchte zustande. Die offizielle Tagesdosis in der Chinesischen Medizin liegt mit 6-12 g niedriger.5 Dennoch könnte es auch unter therapeutischer Dosierung bei Behandlung mit Vitamin-K-Antagonisten zu einer erhöhten Gerinnungshemmung kommen. In einer komplexen Rezeptur kann die Wirkung noch einmal anders aussehen als bei Gabe der Einzeldroge. Interaktionen sind bei gleichzeitiger Behandlung mit Chinesischer Arzneitherapie und konventionellen Arzneimitteln mit enger therapeutischer Breite immer möglich. Das Centrum für Therapiesicherheit in der Chinesischen Arzneitherapie (CTCA) empfiehlt6, in derartigen Fällen die Indikation für beide Therapierichtungen streng zu stellen und, soweit möglich, die Medikamentenspiegel (bzw. hier den Gerinnungswert) regelmäßig zu bestimmen. Durch engmaschige INR-Kontrollen und entsprechende Anpassung der Antikoagulanziendosis lässt sich dann die Gerinnungshemmung unschwer steuern, wie das bei anderen Komedikationen auch gelingt. Es empfiehlt sich eine INR-Kontrolle ca. 3-5 Tage nach Gabe, Änderung oder Absetzen von chinesischen Arzneien, bei Gojibeeren nach 3 Tagen. Grundsätzlich ist in diesem Zusammenhang anzumerken, dass nicht nur die Gojibeeren, sondern auch eine Reihe anderer Nahrungsmittel mit Vitamin-K-Antagonisten interagieren können. Dies sind insbesondere Gemüsesorten, die reich an Vitamin K sind, wie z.B. Sauerkraut, Blumenkohl, Brokkoli, Blattsalate, Spinat und Rosenkohl. Im Gegensatz zu Lycii Fructus (gou qi zi) vermindern sie die Gerinnungshemmung von Vitamin-K-Antagonisten, stellen also deren therapeutische Wirksamkeit in Frage. Diese Nahrungsmittel sollten daher bei Einnahme von Vitamin-K-Antagonisten nur in geringen Mengen konsumiert werden. Bei Lycii Fructus ist der zugrunde liegende Wirkmechanismus der Interaktion mit diesen Mitteln bislang noch nicht eindeutig identifiziert. Weiterhin ist noch unbekannt, ob die Wurzelrinde dieser Pflanze, Lycii Cortex (di gu pi), auf gleiche oder ähnliche Weise mit Vitamin-K-Antagonisten interagiert wie die Beere. Bislang sind keine Interaktionen beschrieben worden.
1. BfArM März 2013. http://www.pei.de/SharedDocs/Downloads/vigilanz/bulletin-zur-arzneimittelsicherheit/2013/1-2013.pdf?__blob=publicationFile&v=8
2. Rivera CA et al. Probable interaction between Lycium barbarum (goji) and warfarin. Pharmacotherapy 2012;32:e50-3
3. Lam AY et al. Possible interaction between warfarin and Lycium barbarum L. Ann Pharmacother 2001;35:1199-201
4. Leung H et al. Warfarin overdose due to the possible effects of Lycium barbarum L. Food Chem Toxicol 2008;46:1860-2
5. Pharmacopoeia of the Peoples Republic of China (English version). Vol. I. Beijing: China Medical Science Press, 2010
6. www.ctca.de
Dieser Artikel von Axel Wiebrecht und Andreas Kalg war zuerst erschienen in Naturheilpraxis 6/2013.